‚Bärbel‘
Step #01 / Sehen ist nicht dasselbe wie Hinschauen
Null Filter, kein Schnickschnack – ungebremste Neugier und offenes Herz. In der endlosen Bilderflut, die jede Sekunde über uns hineinstürmt, wird ehrliches Hinsehen zum seltenen Augenblick. Ein Kind sieht ohne Erwartungen – und in diesem Staunen kehrt die Magie zurück.
In Context. / Schule des Sehens
In der Fotografie geht es für mich immer wieder um diesen einen Moment des reinen Staunens – so als würdest du die Welt zum ersten Mal sehen. Denk an ein Kind: keine vorgefertigten Erwartungen, keine Checkliste, nur Neugier und Offenheit. Genau diese Haltung macht Bilder stark. Sie bringt eine Leichtigkeit mit, die aus Ehrfurcht und Respekt wächst: Du bleibst still, gehst nah ran, lässt das Motiv für sich sprechen.
Aber wir wissen: In der Praxis stehen Aufträge, Kund*innen und Deadlines dazwischen. Kompromisse schleichen sich ein, die Bildsprache wird kalkuliert. Im digitalen Zeitalter potenziert sich das noch: Sekundenschnell überschwemmen unzählige ähnliche Fotos Feeds und Timelines. Die kindliche Unbefangenheit droht, in der Masse unterzugehen.
Staunen
Du hältst den Auslöser an der Lippenkante, beobachtest, wie ein Blatt im Sonnenstrahl zittert. Kein Konzept, kein Ziel, nur das unvoreingenommene Sehen. Nicht kindlich naiv, sondern radikal offen: Du lernst wieder, ohne Vorannahmen wahrzunehmen. Jeder Klick fängt weniger eine perfekte Inszenierung ein als einen flüchtigen Funken Ehrfurcht.
Die Magie der ursprünglichen Wahrnehmung
Jene „kindliche Unschuld“ ist aus philosophischer Sicht ein Aufruf, sich auf das Wesentliche zu besinnen. In der Phänomenologie spricht man davon, die Welt „so wie sie erscheint“ anzuschauen – ohne vorschnelle Deutung. Das Kindliche ist darin keine Naivität, sondern ein radikales Offen-Sein. Diese Haltung widersetzt sich jedoch dem Lärm der unzähligen Fotografien, die täglich generiert und konsumiert werden. Wo alles in Überschwang existiert, droht das Einzelne seine Tiefe zu verlieren. Das ist die Tragik, die Du beobachtest: Wenn ein Bild nur noch ein Post im digitalen Strom wird, schwindet seine Aura.
Aura & Flut
Der Auftrag drängt. Deadline drückt, Kund*innen erwarten kalkulierte Looks. Parallel dazu überschwemmen tausend ähnliche Bilder dein Smartphone. Die Aura des Einzelnen droht zu verschwinden. Walter Benjamin sprach vom Verlust der Einmaligkeit im Zeitalter der Reproduzierbarkeit – heute multipliziert sich dieses Phänomen in Mikrosekunden. Doch Auseinandersetzung erfordert Stille: Nur wenn du innehältst, kehrt die Tiefe zurück.
Entwertung durch Überflut
Walter Benjamin schrieb einst, dass die Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks dessen Aura verändere. Mit der Digitalisierung hat sich das noch einmal potenziert: Ein Foto ist binnen Sekunden millionenfach dupliziert und verteilt. Diese schiere Masse hebt die Kostbarkeit auf. Ein Bild verliert seine Einmaligkeit, sobald es in jeder Timeline, in jedem Feed sichtbar ist – es wird zur austauschbaren „Posse“, wie Du sagst. Magie setzt hingegen Auseinandersetzung, Stille und Zeit voraus. Ist uns aber in dieser schnelllebigen Gegenwart noch möglich, Raum für Stille und echte Begegnung mit dem Bild zu finden?
Unbefangen im Dunklen
Ein verrostetes Schaukelgestell, ein verblasstes Portrait – du gehst hin, ohne Urteil, und schließt kurz die Augen. Dann siehst du mehr: die Geschichte hinter der Oberfläche, das kaum Wahrnehmbare, das sonst an dir vorbeirauschen würde.
Unschuld im Hässlichen
Auch in dunklen, schmerzhaften Motiven kannst du dir diese Haltung bewahren. Ein Kind schreckt nicht vor Schrecken zurück, es nimmt wahr, ohne zu urteilen. Dieses offene Staunen, lautlos und unvoreingenommen, ist enorm kraftvoll. Vielleicht liegt hier der Schlüssel: in der Entscheidung, sich nicht vom Rauschen blenden zu lassen, sondern den Blick auf das Wesentliche zu lenken.
Fotomeditation
An deinem nächsten Montagmorgen verzichtest du aufs Scrollen. Du suchst dir eine Stelle im Park, wählst ein Motiv – sagen wir, eine Pfütze im Kopfsteinpflaster – und fotografierst sie zehnmal aus demselben Winkel. Dann legst du die Kamera weg und beobachtest nur noch, wie das Licht im Wasser tanzt. Was hast du wahrgenommen, das dir sonst entgangen wäre?
Zukunft der Magie
Kann uns die digitale Überfülle wirklich jede Magie nehmen? Ich glaube: Nein. Große Fotos rühren uns auch heute noch tief – wenn sie uns anders berühren, ehrlicher und unmittelbarer. Die technischen Möglichkeiten der Nachbearbeitung und Verbreitung können dabei Fluch und Segen zugleich sein. Oft entzaubern sie, manchmal offenbaren sie aber auch eine neue Dimension des Sehens.
So liegt die Herausforderung darin, dem schnellen Konsum zu widerstehen. Inmitten der allgegenwärtigen Bildflut kann es gerade die kindliche Entdeckungslust sein, die einen fotografischen Prozess anstößt, der auf Echtheit und Berührung abzielt. Der Versuch, wirklich hinzusehen und nicht nur „durchzuklicken“, kann eine Art geistiger Übung werden – eine Form von fotografischer Meditation, die einer Art „Innehalten“ entspricht.
Letzter Blick
Magie entsteht nicht durch Perfektion, sondern durch unvoreingenommenes Hinsehen. Wage es, das Gewohnte loszulassen – und du wirst spüren, wie ein einfacher Augenblick dein stärkstes Bild wird.
Ein Plädoyer für den fortdauernden Blick
So bleibt Deine Kraft – jene Haltung der unbefangenen Wahrnehmung – hochaktuell und essenziell. Gerade weil das Medium sich in tausend Verzweigungen verliert, kann die schlichte, ehrliche Hingabe an den Moment die letzte Bastion des Magischen sein. Sie ist nicht garantiert, nicht einfach, nicht marktgerecht. Doch es ist dieser fortdauernde, stille Blick, der uns die lebendige Seele eines Motivs noch spüren lässt, selbst wenn ringsum alles zum beliebigen Content verkümmert.
Das Kind in Dir kann uns also lehren, unter all den Bildern wieder ein *wahres* Sehen zu entdecken. Wenn wir uns in einen Zustand versetzen, der nicht besitzen oder manipulieren, sondern schlicht schauen will, bewahren wir den Keim jener Unschuld. Ein Blick, der auch das „Grässliche“ aushält, weil er nicht urteilt, sondern versteht. Das ist vielleicht – trotz aller Digitalisierung – die bleibende Magie der Fotografie: Nicht die perfekte Oberfläche, sondern die Wahrhaftigkeit, die in einem Augenblick des ungeschönten Staunens spürbar wird.
Praktische Übung: Fotografische Meditation
Nimm dir Zeit: Verabrede dich montags für eine Stunde nur mit deinem Blick.
Verzichte aufs Scrollen: Such dir ein Motiv und fotografiere es zehnmal aus demselben Winkel.
Schau danach ohne Kamera aufs Bild: Was hast du hinzugewonnen?
Der stille, unbefangene Blick ist keine nostalgische Utopie. Er ist eine Entscheidung – gegen schnellen Konsum, gegen Austauschbarkeit. Wenn du dich traust, dieser Kraftquelle zu vertrauen, entdeckst du die wahre Magie der Fotografie: nicht die perfekte Oberfläche, sondern die lebendige Seele eines Augenblicks.
Joerg Alexander / Berlin 03.05.2025















