Ein Blinzeln in der Wirklichkeit

Was verpasse ich gerade, weil mein Kopf längst glaubt, alles gesehen zu haben?

Das ist keine rhetorische Figur, sondern ein Arbeitsauftrag. Wer sie stellt, lässt den Narrativfilter flattern, riskiert Leere zwischen zwei Gedanken – und schafft Raum für etwas, das nicht vorhergesagt war.

Intro – Eine Handbreit Nebel

Es gab einmal eine Stadt, in der jede Laterne einen Lautsprecher trug. Wer vorbeiging, hörte:

„Schau, ich erkläre dir alles.“

Du nicktest, dachtest: Gut, wieder ein Rätsel gelöst, und gingst weiter. Bald verwechseltest du die Lautsprecher mit deinem eigenen inneren Monolog. Kein Skandal, nur eine leise Verarmung. Dies ist kein Manifest dagegen, sondern die Bitte, die Nebelsuppe auszuhalten – einen Augen-, besser: einen Atemzug lang –, bevor du wieder „verstanden“ sagst.

I. Wissen als Wacholderzweig

Ein Wacholderzweig verströmt starken Duft, verbrennt aber rasch. So auch unser Wissen, sobald wir es wie eine Wunderkerze schwenken: Es beduftet den Raum, betäubt Einwände und wird schneller Asche, als wir „Beweis“ rufen können. Wer ständig mit dem süßen Rauch wedelt, schlägt Argumente tot und nennt das Aufklärung. Besser wäre: den Zweig nur kurz ins Feuer halten, den Geruch erkennen – und ihn dann einstecken. Misstrau dem Aroma, das zu schnell alles erklärt.

II. Blick als Abgrund

Merleau-Ponty erinnert uns: Die Welt sieht uns an, ehe wir sie sehen. Kamera, Auge, Begriffe – alles nur zweiter Rang. Wir flicken den Spalt zwischen Welt und Wort mit Etiketten zu: Links, rechts, grün, fertig. Versuch einmal, eine Minute lang nichts zu benennen. Sag dem Stuhl nicht „Stuhl“. Hör dem Holz zu, spür das Gewicht. In diesem Sprach-Vakuum begegnet dir Wirklichkeit, die nicht deine Freundin sein will. Sie kratzt; das ist ihr Geschenk.

III. Gewissen ohne Geländer

Gewissen, das bloß die Verlängerung unserer Lieblingsgeschichte ist, bleibt Zahnschmelz fürs Ego: hart, schmuck, funktionslos. Echtes Gewissen läuft ohne Geländer. Es stellt Fragen, die sich nicht twittern lassen:

– Wem gehört die Stille, wenn ich laut werde?

– Wer zahlt, wenn ich einen Klick spare?

– Wo endet mein Vorteil und beginnt ein anderer Hunger?

Gewissen sagt nicht Du sollst, sondern Schau länger. Es erträgt Unschärfe und misstraut dem eigenen Beispiel-Fundus ebenso wie den moralischen Leuchtstiften, mit denen wir so gern unterstreichen.

Bridge – Kleines Handwerk des Zweifels

Aufschub

Schreib einen Ein-Satz-Tweet. Lass ihn 24 h im Entwurf. Ist er morgen noch lebendig? Absenden. Klingt er nach Aerosol? Löschen.

Fremdton

Lass jemanden, der dir widerspricht, deinen Absatz laut lesen. Hör zu, wie die Wörter Farbe wechseln.

Glasbruch

Hänge ein Foto absichtlich schief. Warte, bis dich jemand darauf hinweist. Frag, warum es stört. Der Riss zeigt oft mehr Wahrheit als perfekte Ausrichtung.

Epilog – Sand im Schuh

Was bleibt, wenn wir nicht sofort erklären? Nachtluft. Flimmern im Objektiv. Das Staubkorn, das jeden Frame stört – und damit beweist, dass der Projektor läuft. Vielleicht genügt dieser winzige Kratzer, um morgen genauer zu sehen: nicht lauter, nicht schneller, nur wacher. Wir schulden es nicht der Selbstoptimierung, sondern der Welt, die uns – ungebeten und unbegreiflich – anblickt.

Zweifel ist ihr kleines Trinkgeld.

Joerg Alexander / Berlin / 24.05.2025 

@