Wenn Bilder nicht mehr entstehen, sondern passieren – tausendfach, augenblicklich, ohne Widerstand. Dann wird Sehen zur Entscheidung. Zum bewussten Akt gegen das automatische Rauschen.

Dies ist mein Versuch, mich hindurchzusehen: von der Dunkelkammer zur Prompt-Zeile, von analoger Intimität zur algorithmischen Flut. Inspiriert von Vilém Flusser und einem Blick, der langsamer werden will – um besser zu sehen.

Ich frage nicht, ob ein Bild echt ist. Ich frage, was es sagt. Und welcher Blick in ihm spricht. Fotografie ist für mich kein Beweis. Sie ist ein Gespräch. Mit Licht. Mit Technik. Mit mir.

Ich sehe, also werde ich.

Ich bin mit Bildern aufgewachsen, die man nicht einfach schoss. Man ließ sie entstehen – wie man Brot backt oder einen Gedanken zu Ende denkt. Schritt für Schritt. Langsam. Und mit Geruch: Fixierer, Entwickler, Dunkelkammer. Das Licht ging rückwärts und tauchte plötzlich auf Papier wieder auf.

Fotografie war ein Handwerk mit Seele. Sehen war kein Reflex – es war eine Haltung.

Jeder Handgriff ein Zweifel: Habe ich es richtig gemacht? Ist das Licht mein Verbündeter? Wird der Moment mich tragen?

Ich wollte alle Formate beherrschen, vom 35mm bis zu den riesigen 8×10 inch-Polaroids. Und irgendwann lagen dann Magazin-Cover vor mir, direkt aus der Kamera. Das war Glück – nicht im großen, sondern im klaren Sinn: Ich hatte verstanden, wie Licht denkt.

Und doch war Fotografie nie ein Beweis. Sie war eine Einladung:

Sieh mich. Lies mich. Antworte.

KI: Ich tippe, also erschaffe ich

Heute tippe ich Bilder. Ich schreibe Licht. Kein Auslöser, keine Kamera – nur ein Prompt, der zur Welt werden will.

Generative KI produziert in Sekunden mehr Bilder, als ich früher in einem Monat belichtete. Die Chemie ist weg, das Nachdenken bleibt. Und wieder stehe ich wie damals vor einem Negativ: Was davon ist echt – im Sinne von berührbar?

Diese Bilder täuschen. Ja.

Aber sie träumen auch. Und ich darf mitträumen, wenn ich es ernst meine. Wenn ich hinschaue, statt nur zu glauben.

Flusser: Lesen ohne Buchstaben

Flusser kam nicht als Theorie zu mir, sondern als Spiegel. Seine These: Die Kamera – oder heute der Algorithmus – ist ein Apparat mit einer Meinung.

Ein Gerät, das vorgibt, was gesehen werden darf. Und was nicht.

Ein Apparat, der dich freundlich lächeln lässt, während er dich programmiert.

Da wurde mir klar: Wenn ich den Code nicht hinterfrage, gehören mir die Bilder nicht. Ich bin dann nicht Schöpfer, sondern Spieler im Spiel eines Anderen.

Flusser sagte: Dekodiere oder gehorche.

Ich entschied mich fürs Lesen. Jedes Bild ist jetzt ein Text. Jeder Prompt ein Satz. Jeder Stil eine Ideologie.

Und ja – Lesen macht langsamer. Aber langsamer macht sehend.

Therapie durch Sehen

Fotografie ist für mich kein Archiv. Sie ist Therapie. Kein Mittel zur Kontrolle – sondern zur Verbindung.

Bewusstes Sehen ist heilsam. Es zwingt mich, wirklich da zu sein.

Ich scrolle durch hunderte Varianten. Aber dann ist da plötzlich ein Bild, das stockt. Das sich weigert, glatt zu sein. Ein Fragment, das sich nicht zu Ende rendern will.

Und genau dort beginnt meine Arbeit: im Widerstand. In der Störung. Im Ungefähren.

Fotografie ist kein Speichern – sie ist ein Gespräch mit mir. Und mit dem Chaos.

Ethik ist kein Filter

Ich glaube nicht an Neutralität. Aber ich glaube an Verantwortung.

Jedes Bild zeigt etwas – und lässt anderes weg.

Es bestimmt, wer sichtbar wird. Und wie. Und wer nicht.

Darum habe ich mir Regeln gemacht:

  1. Prompt-Transparenz – Ich zeige, wie ein Bild gemacht wurde. Kein Trick, keine Illusion.

  2. Störung – Ich baue Widerstand ein. Nicht um zu schocken, sondern um zu spiegeln. Ich will, dass der Blick stolpert.

  3. Fragen statt Urteile – Kein Titel soll abschließen. Meine Bilder fragen: Was siehst du wirklich?

Kontemplative Digitalität

Ich nenne es kontemplative Digitalität. Keine Ästhetik – eine Praxis.

Die KI ist schnell. Das Denken darf langsam sein.

Ich darf wählen: Das nicht. Das auch nicht. Vielleicht das hier.

Ich kreiere im Sekundentakt.

Aber ich entscheide im Stillstand.

Denn Bedeutung liegt nicht im Bild. Sie entsteht zwischen Blick und Bewusstsein.

Coda: Jedes Bild spricht – aber zu wem?

Es gibt kein neutrales Bild. Jedes trägt seinen Code.

Das Urlaubsbild sagt: Ich war da.

Das Nachrichtenbild sagt: Das passiert.

Das Porträt sagt: Sieh mich.

Das intime Bild sagt: Ich sehe dich.

Das KI-Bild sagt: Ich bin nicht echt – aber ich will verstanden werden.

Jedes Bild sucht einen Blick. Einen Kontext. Eine Beziehung.

Ein fremder Blick. Ein naher Blick. Ein verletzlicher. Ein forschender.

Ich versuche, mit meinen Bildern nicht nur zu zeigen – sondern zuzuhören.

Nicht: So ist die Welt.

Sondern: Hier ist ein Stück. Was machst du damit?

Drei Sätze, die bleiben dürfen:

„Bedeutung stirbt im Rauschen – Bewusstsein erweckt sie neu.“

„Gestalten heißt wählen, wessen Welt sichtbar wird.“

„Fotografie ist kein Speichern – sie ist ein Gespräch mit dem Chaos.“


 

´Joerg Alexander / Berlin / Mittwoch, 21.04.25  

@