Lichtsplitter
Category : Perspective
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Essay:
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Im Schattenfunkeln
In jenem Zwischenraum, in dem sich das Schweigen der Kehle mit dem Pochen des Herzens vermischt, wächst eine Scham, die weder Gestalt noch Stimme besitzt, eine wachsame Dunkelheit – und doch blitzen darin winzige Lichtsplitter wie die ersten Augen einer Morgendämmerung, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie wirklich Tag werden will; dort, im dichten Gestrüpp der Selbstzweifel, ahne ich bereits, dass Ehre und Selbstachtung weniger errungen als erlauscht werden müssen, wie ferne Glocken, die nur läuten, wenn man innehält.
Scham ist kein Mantel, den man ablegt, sie ist ein feiner Staub, der sich in jede Pore setzt, ein Zusatzgewicht an jeder Geste, so zart, dass ihn niemand sieht und doch so schwer, dass er dich langsam zur Erde zieht, bis dein Blick nur noch den eigenen Fußspitzen begegnet; in diesem gebeugten Winkel schaue ich verwundert hinauf zu denen, die schamlos über das Pflaster schreiten – als hätten sie ihren Schatten an der Garderobe der Welt abgegeben, um mit leichterem Schritt zu tanzen – und begreife, wie verführerisch es scheint, das Unsichtbare einfach zu verleugnen.
Doch dort, wo sich Scham wie ein dichter Vorhang legt, wartet ein anderer Spiegel: der Stolz, der nicht laut prahlt, sondern leise erinnert, dass Würde kein Podest, sondern ein inneres Geräusch ist, der sanfte Nachhall eines „Ich bin“, das keiner Bestätigung bedarf; und während ich die Fingerkuppen an die kalte Spiegelfläche lege, spüre ich, wie sich hinter dem Nebel der Selbstverurteilung ein Umriss abzeichnet – ein Umriss, der mir zuflüstert, dass Selbstachtung geboren wird, wenn der Blick sich nicht mehr im Urteil der anderen verfängt, sondern den eigenen Herzschlag als Metronom wählt.
Ehre, sagt die alte Philosophie, ist ein Gelände aus Anhöhen und Schluchten, gezeichnet von Pfaden, die wir mit unseren Entscheidungen schlagen; und ich entdecke, dass jede Schamfalte eine verborgene Schlucht ist, die nur darauf wartet, von dem Fluss aus Mut und Aufrichtigkeit geflutet zu werden, bis die Wasserlinie ansteigt und das Ufer neues Land freigibt, ein Terrain, in dem ich lernen darf, mich vor mir selbst nicht zu verstecken, sondern mir wie einer Gefährtin gegenüberzutreten – mit zitternder Stimme vielleicht, doch offen.
Wenn das Licht endlich durch die Ritzen der Scham sickert, malt es keine grellen Konturen, sondern weiche Umrisse, in denen sowohl Verletzlichkeit als auch Würde Platz finden; und während der Schatten nicht verschwindet, lerne ich, ihn wie einen stillen Begleiter zu betrachten, der mich daran erinnert, dass wahrhafte Ehre nicht das Fehlen von Fehlbarkeit ist, sondern die Kunst, sich trotz ihr aufzurichten – und dass Selbstachtung jenes heimliche Leuchten ist, das sogar im dunkelsten Zimmer noch eine Wand findet, an der es sich spiegeln kann, um den Weg hinaus zu zeigen.
Joerg Alexander / Berlin / 07.06.2025
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