"Je est un autre"

„Ich ist ein Anderer“ Arthur Rimbaud

Rimbaud wusste: Das Ich ist kein Zentrum, sondern ein Spiegel. Was wir für uns halten, spricht oft mit fremder Stimme. Manchmal ist das Selbst nur ein Übergang.

Ein Anderer. Ein Echo. Ein Verschwinden.

Wir leben zwischen Spiegeln. Manche zeigen uns, wie wir scheinen. Andere, wie wir sein möchten. Manche verzerren, manche schmeicheln, manche schneiden uns aus dem Bild. Kaum ein Moment, in dem wir nicht gespiegelt werden — durch Worte, Blicke, Gesten, durch Bildschirme, Erinnerungen, Erwartungen. Spiegel sind keine einfachen Flächen. Sie sind Geschichten, Rollen, Masken. Sie sind Versuchungen. Und doch: Ohne Spiegel bleiben wir stumm.

Was also bleibt, wenn sie fehlen? Wer sind wir, wenn niemand uns zurückwirft?

Die Welt als Spiegelmaschine

Wir wachsen auf in einer Welt aus Spiegeln. Platon spricht im Höhlengleichnis von Schatten, Baudrillard von Simulationen. Wir sehen nicht die Welt, wir sehen ihre Abbilder.

Doch es sind nicht beliebige Spiegel, die wir wählen. Es sind jene, die unser frühes Inneres reflektieren: unsere Verluste, unsere Sehnsüchte, unsere Ängste. Das Trauma wird zum Filter. Wir formen unsere Spiegel so, dass sie die Geschichte weiterschreiben, die wir nie zu Ende erzählen konnten.

Der Mensch verliert sich nicht an die Welt. Er verliert sich an ihre Spiegel.

Gesichter, Rollen, Masken

Soziale Spiegel wirken subtiler und unmittelbarer. Familie, Freunde, Gesellschaft — sie prägen, wer wir glauben zu sein.

Erving Goffman beschreibt den Menschen als Darsteller: Wir sind, was wir spielen. Wer die Kunst der Spiegelung beherrscht, tritt ins Licht. Doch diese Kunst stellt eine stille Frage: Bin ich ein geschickter Mitspieler? Oder einer, der nur improvisiert?

In allem, was wir tun — Arbeit, Kunst, Gespräch — senden wir Bilder. Wir betonen, verschweigen, verzerren. Jede Geste, jedes Wort ist Spiegelarbeit.

Hier beginnt Verantwortung: Was setze ich in die Welt? Was spiegele ich? Was will ich sichtbar machen — und was nicht?

Leere, Wüste, Selbsterkenntnis

Was bleibt, wenn die Spiegel verschwinden?

Die Wüste weiß es. Kein Blick, kein Echo, kein Applaus. Nur Raum. Nur Wind. Nur Gegenwart. Simone Weil schrieb: „Die Wüste ist der Ort, an dem Gott sprechen kann.“ Vielleicht ist es auch der Ort, an dem wir uns selbst zum ersten Mal hören.

In der Wüste wird Wahrnehmung unvermittelt. Erkenntnis wird nackt. Wer bin ich, wenn niemand mich benennt? Wir entdecken: Die Bilder, die wir von uns trugen, waren nicht unsere. Sie waren geliehen, erbeten, aufgezwungen.

Das Selbst entsteht nicht im Spiel der Spiegel. Es entsteht im Aushalten der Leere.

In der Einsamkeit. In der Stille. In der ungeschminkten Gegenwart. Wir stellen Spiegel auf, um uns zu erkennen — und verlieren uns in den Bildern, die sie uns zeigen. Nimm dem Menschen die Spiegel — und er wird sich zuerst verlieren, bevor er sich begegnet.

In der Wüste gibt es keinen Beifall. Keine Kritik. Kein Maßstab. Nur Wind, Sand, und die eigene Stimme.

Vielleicht ist es nicht die Wüste, die heilt. Vielleicht ist es nur das Fehlen der Spiegel.

´Joerg Alexander / Berlin / Dienstag, 29.04.25  

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